Jahrhundert der Menetekel

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Märkische Allgemeine Zeitung– 09.09.2006

Der Flame Paul Verhaeghen hat einen Monumentalroman über die deutsche Geschichte geschrieben

BABETTE KAISERKERN

Was bleibt vom 20. Jahrhundert in Erinnerung? Paul Verhaeghens soeben erschienener Monumentalroman „Omega minor“ kreist um Krieg, Holocaust, Atombombe, um die epochalen Themen, die in zahllosen literarischen, filmischen und wissenschaftlichen Werken ihren Niederschlag gefunden haben. Doch jenseits von Bericht, Biografie, Statistik und Theorie gelingt Paul Verhaeghen das Wunder, ein Menetekel der Menschheit zu schreiben, in dem das Wissen um die barbarische Bosheit des letzten Jahrhunderts nicht papiertrocken erstarrt, sondern zu einem Teil der Welt und damit der menschlichen Existenz wird. Vor den Kulissen von Berlin und Potsdam entwirft Paul Verhaeghen einen aus den Fugen geratenen Kosmos, ein schrilles Panoptikum, das an die Gemälde von Max Beckmann, Felix Nussbaum und George Grosz erinnert.

Der 1965 geborene Flame, der in New York Kognitive Psychologie lehrt, kann planetarisch weit blicken, aber er besitzt auch detailgenaue Beobachtungsgabe, er ist hochgelehrt in Wissenschaften, Künsten und Religionen, verfügt aber ebenso über lustvolle Fantasie und bricht gern Tabus.

Eines davon stellte einst der Kulturkritiker Theodor W. Adorno auf, als er sagte: „Jedes Gedicht nach Auschwitz ist Barbarei“. Ein halbes Jahrhundert später stellt „Omega minor“ die legitime Gegenfrage und gibt eine neue Antwort: „Keine Poesie nach Auschwitz? Oft denke ich: Nach Auschwitz gibt es nur noch Poesie. Jede Theorie, jede Fiktion, jedes menschliche Drama hat auf dem Kachelboden der Gaskammer seine Kraft verloren.“

Sollen Wissenschaftler nicht mehr forschen, Dichter schweigen, Menschen erstarren? Nein, das Leben geht weiter, „alles fließt“. Das klingt trivial, ist aber eine schlichte Weisheit, die das Buch rasant, barock, sinnlich und vehement vermittelt. Obwohl oder gerade weil das denkbar grauenvollste Geschehen das 20. Jahrhundert prägte, stehen einzelne Menschenleben im Zentrum des Romans – gute und böse, handelnde und denkende, fühlende und – nicht zuletzt – lesende Menschen.

In einer Berliner U-Bahn wird im Jahr 1995 ein junger flämischer Post-Doc-Forscher mit Namen Paul Andermans nach einem selbstlosen Akt von Hilfsbereitschaft von Neo-Nazis zusammengeschlagen. Im Krankenhaus begegnet er Josef de Heer, einem alten Juden, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Dank seiner Talente als Zauberkünstler hatte Josef de Heer das Dasein im Untergrund und Auschwitz überlebt, auch seine spätere Existenz als berühmter Fernsehzauberer in Ost-Berlin gründete darauf. Wie er in die Machenschaften des deutschen Staats beim Mauerbau verwickelt wird, stellt einen weiteren Erzählstrang dar.

Nach seiner Entlassung besucht Paul seine Krankenhausbekanntschaft. Er will de Heers Leben als Berliner Junge, Nazi-Verfolgter und KZ-Häftling aufschreiben. Dabei stellt sich heraus, dass einiges nicht ganz stimmt, beziehungsweise aus Büchern von Holocaustüberlebenden wie Primo Levi übernommen worden ist. Diese Geschichte in der Geschichte ist Teil der labyrinthischen, bisweilen irritierenden Vielschichtigkeit von Verhaeghens Roman.

In seiner Potsdamer Universitätsunterkunft – sehr treffende Beschreibungen der Potsdamer Universität, der Häuser und Straßen kurz nach der Wende im nass-kalt-grauen Januarklima – trifft Andermans auf die italienische Forscherin Donatella, eine enge Vertraute von Professor Goldfarb. Dieser war mit seiner Mutter, einer Schauspielerin, im letzten Moment aus Berlin in die USA geflüchtet, wo er Physik studierte und nach Los Alamos ging, um am Bau der Atombombe mitzuarbeiten.

„Omega minor“ stellt viele Fragen nach den Grundlagen der menschlichen Existenz: „Wir hätten etwas lernen müssen aus Auschwitz. Die Erinnerung an Hitler wird allmählich lau und wir werden zu einer Geschichte. Sogar in der Staatsoper treten manchmal auf der Bühne Soldaten in langen, grauen Wehrmachtsmänteln auf, ab und zu tragen sie wahrhaftig Uniformmützen mit einem Totenkopf. Ist die Welt denn schlecht, oder ist sie lediglich idiotisch unmoralisch und funktionell gottlos?“

Gegen das Bewusstsein von der Vergeblichkeit aller menschlichen Mühe, gegen die gescheiterte Utopie der Aufklärung setzt Omega minor brodelnde, vulkanische Fabulierkunst. Und das ist viel, nicht nur quantitativ (der Roman hat fast 1000 Seiten!), sondern auch qualitativ. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Geschichte und den Geschichten des Judentums, aber auch Buddhismus und Hinduismus spielen eine Rolle.

Das Wort „Gott“ wird in Anspielung auf die jüdische Sitte niemals ausgeschrieben, sondern erscheint nur mit den Konsonanten: „G*tt“. Gerade so bemerkt man erstaunt, wie oft dieser Begriff vorkommt. „G*tt schuf die Welt aus 33 geheimen Pfaden der Weisheit. Aus zehn Ziffern und 22 Buchstaben. Das Weltall – alles, was ist, und alles, was geschieht – ist ein Buch, geschrieben in Zahlen und Buchstaben.“ Es beeindruckt besonders, wie der Autor das auf den ersten Blick so undurchschaubare Chaos der Zeiten, Personen und Orte überlegen gegliedert und gestaltet hat.

Beim furiosen Finale treffen die Hauptfiguren in Berlin zusammen, wo sie 50 Jahre nach Hitlers Tod eine atomare Apokalypse erleben, ein kleines Ende, ein Omega minor. Das richtige Ende kann es ja nicht sein, denn „g*ttseidank“ besteht Paul Verhaeghens opus magnum nur aus Zahlen und Buchstaben. Aber dieses Buch birgt eine ganze Welt in sich.

Paul Verhaeghen: Omega minor. Eichborn, 955 Seiten, 24,50 Euro.


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