Märkische Allgemeine Zeitung– 14.10.2006
Über das Leben jenseits der 80: eine Komödie mit Tiefgang von Marina Lewycka
BABETTE KAISERKERN
Kein junger Mensch weiß, was mit einem passiert, wenn man über 80 Jahre alt ist. Das ist vielleicht auch besser so. Aber man hört auch immer wieder, dass es für die Liebe kein Alter gibt. Von solch einem Fall erzählt Marina Lewycka in ihrem Roman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“.
Zwei Jahre nach dem Tod seiner Ehefrau verliebt sich der 84-jährige Nikolai in eine 36-Jährige, die wie „eine flauschige rosa Granate“ in sein Leben schießt. Nikolai, bei dem man nicht weiß, ob er stur, selbstbestimmt oder senil ist, setzt sich durch. Er heiratet gegen den Widerstand seiner Töchter, die zwischen Sorge, Zweifel und Entrüstung wechseln, die platinblonde Sexbombe Valentina.
Außer ihrer ukrainischen Herkunft haben die beiden nichts gemeinsam. Nikolai lebt schon seit 1946 in England, nachdem er den Nationalsozialisten nach der Besetzung der Ukraine nur knapp entkommen war. Valentina hatte nach dem Niedergang der Sowjetunion ihr Glück im goldenen Westen gesucht, wo ihre Träume schneller als gedacht platzen. Schnell werden auch die schlimmsten Befürchtungen der Töchter wahr. Dass Nikolai zunehmend auf Hilfe und Pflege angewiesen ist, beeindruckt Valentina nicht im Geringsten. Sie schimpft und ergreift drastische Maßnahmen gegen den alten Mann. Auf ihrer gelegentlich slapstickartigen Tour-de-Force in knappen Szenen und Dialogen streift Marina Lewycka viele Klischees und doch überzeugt ihr Roman über weite Strecken.
Mit drastischem Realismus und einer guten Portion Sarkasmus beschreibt sie die Kalamitäten des Alterns, die Versuche der beiden ungleichen Töchter, ihren Vater zu befreien, das rücksichtslose Streben von Valentina nach materieller Sicherheit. Die eingeschobenen Erzählungen der Eltern über ihre Tribute an Stalinismus und Nationalsozialismus verleihen dem Buch bewegende Momente.
Unermüdlich schreibt der Vater weiter an seinem Lebenswerk, der „Kurzen Geschichte des Traktors“ über die weltweiten Auswirkungen der Industrialisierung in der Landwirtschaft – und setzt damit auch ein Denkmal für Widerstandskraft und Geistesgegenwart im hohen Alter. Schließlich siegt die Komödie und geht mit einem niedlichen Happyend für alle aus.
Nach 50 Romanversuchen hat Marina Lewycka mit über 50 Jahren einen Roman geschrieben, der in England ein Bestseller wurde. Mit ihren Figuren verbindet Marina Lewycka, die in einem deutschen Lager als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter geboren wurde, nicht nur die ukrainische Herkunft und die Emigration nach England. Die Autorin hat zudem eine Reihe von Schriften über die Pflege von alten Menschen verfasst. Es ist ihr gelungen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse in einem Familienroman über ein erfülltes Leben im hohen Alter leicht, kurios und amüsant zu gestalten.
Marina Lewycka: Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch. dtv premium, 358 Seiten, 14 Euro.