Wie die Liebe zum Menschen kommt

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Märkische Allgemeine Zeitung– 04.01.2006

Nicole Krauss weiß das Geheimnis

BABETTE KAISERKERN

Weder Bildende Kunst, noch Musik, noch Film können als Domänen der Liebe bezeichnet werden, sondern allein die Literatur. Fast alle Literaten des Abendlandes – angefangen bei König Salomo über Platon, Ovid, Dante – haben an der „Erfindung der Liebe“ mitgeschrieben. Diese Redewendung geht auf ein Buch zurück, mit dem die Berliner Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders vor zehn Jahren die Fachwelt begeistern und überzeugen konnte.

Unzählige Erzählungen, Gedichte und Traktate kreisen um die Idee der Liebe und bilden eine Urschicht unserer Kultur. Jetzt hat die junge amerikanische Schriftstellerin Nicole Krauss dieses ewige Thema fortgeschrieben – auf eine ganz eigene, moderne und sehr gut lesbare Art. Nicole Krauss und ihr Ehemann, der erfolgreiche Schriftsteller Jonathan Safran Foer, gelten als das neue Traumpaar der amerikanischen Literatur.

Ein Kunststück ist schon der Romantitel „Die Geschichte der Liebe“, der mit seiner lapidaren Kürze die Essenz des Romans wiedergibt, wenn er auch erstmal unter dem in Deutschland üblichen Kitschverdacht stehen mag.

Ein fiktiver Text über die Liebe bildet den roten Faden im vielschichtigen Roman von Nicole Krauss. Vor dem zweiten Weltkrieg hat Leopold Gursky das Buch „Die Geschichte der Liebe“ für seine Freundin Alma Mereminski in jiddischer Sprache geschrieben. Alma wird von ihrem Vater nach Amerika geschickt, die Verbindung zu Gursky endet, doch ein Sohn geht daraus noch hervor. Veröffentlicht wurde Gurskys Buch in spanischer Sprache und unter Pseudonym.

Der Vater einer anderen Alma, der Ich-Erzählerin, entdeckt das Buch in Buenos Aires und schenkt es seiner zukünftigen Frau als Zeichen der Zuneigung. Ihre Tochter nennen sie ebenfalls Alma. Diese Alma, deren Name auf spanisch „Seele“ bedeutet, begibt sich auf die Suche nach dem Verfasser des Manuskripts, das ihre Mutter, eine Übersetzerin, eines Tages von einem Unbekannten mit der Bitte erhalten hat, es ins Englische zu übertragen.

Wie die junge, rebellische Alma und der einsame, achtzigjährige Gursky nach langer Suche einander begegnen, erzählt Kraus überaus lakonisch und sachlich. Sie beginnen zu ahnen, wie ihrer beider Leben und das vieler anderer skurriler und origineller Personen durch das Buch über die Geschichte der Liebe miteinander verbunden sind. Die Handlung geht aus der New Yorker Gegenwart zurück in die europäisch-jüdische Vergangenheit. Doch bei aller historischen und räumlichen Konkretion des Textes: Allein die Liebe, deren Substanz bloße Worte sind, kann sich über alle Zeit-, Länder- und Sprachgrenzen hinwegsetzen und zwischen den Erinnerungen, Fantasien und Sehnsüchten der Menschen unsichtbare Bänder weben.

Was wohl kaum einem zeitgenössischen Schriftsteller noch gelingt, schafft Nicole Krauss virtuos: einen ebenso lebendigen wie poetischen Roman über die Liebe zu schreiben, der durch den lakonisch-trockenen Ton der Ich-Erzählerin und die coole Umgangssprache in den Dialogen authentisch wirkt und zugleich das uralte Thema neu erzählt. Nicole Krauss hat überzeugend dafür gesorgt, dass die Literatur die eigentliche Domäne der Liebe bleibt.

Nicole Krauss: Die Geschichte der Liebe. Rowohlt, 345 Seiten, 19,90 Euro.

 


 

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Daphne de Marneffe: „Die Lust Mutter zu sein“

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Märkische Allgemeine Zeitung– 04.03.2006

Daphne de Marneffe plädiert für das Kinderkriegen

BABETTE KAISERKERN

Dass Deutschland eine der niedrigsten Geburtenraten besitzt und auch in Europa mit einem Bevölkerungsrückgang in naher Zukunft gerechnet wird, hat schon viele Fachleute alarmiert. Trotzdem stellt sich die Frage, ob es für das offensichtlich mangelnde Interesse am Kinderhaben noch andere Gründe geben kann als fehlende Kinderbetreuungsplätze oder keine Ganztagsbetreuung in der Schule. Wie kann es sein, dass in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland nahezu jede dritte Frau kinderlos bleibt – und dass die Quote bei gut ausgebildeten und finanziell abgesicherten Frauen, speziell bei Akademikerinnen, noch viel höher liegt?

In ihrem Buch „Die Lust Mutter zu sein“ äußert die amerikanische Psychologin Daphne de Marneffe einige Aspekte, die in den öffentlichen Diskussionen über Kinder beziehungsweise Kindermangel nicht erwähnt werden, aber im Grunde nicht besonders neu sind. Ihre These lautet, dass das Leben mit Kindern eine Quelle für befriedigende, individuelle Erfahrungen darstellt, die emotionale, kreative und kommunikative Elemente einschließt. Doch die dazu nötige Bereitschaft, für andere da zu sein, ist spätestens seit dem berühmten Satz von Simone de Beauvoir „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, prekär geworden. Denn während Frauen früher als Preis für gesellschaftliche Akzeptanz ihr ehrgeiziges, nach Erfolg strebendes Selbst häufig verleugnen mussten, werden sie heute mit derselben Wahrscheinlichkeit dazu gedrängt, ihr zutiefst emotionales Bedürfnis, für ihre Kinder zu sorgen, zu verbergen, schreibt Marneffe.

An dieser Stelle mögen viele Leserinnen entsetzt sein. Sollen die Frauen wieder die alten Rollen übernehmen, ein „roll back“ in längst vergangen geglaubte vorfeministische Zeiten?
Mitnichten. Marneffes Buch ist weder ein Ratgeber noch ein politisches Pamphlet und es geht auch nicht darum, die Errungenschaften der Frauenbewegung nieder zu machen. Marneffe möchte eine Lanze brechen für diejenigen, die sich aus freien Stücken für die persönliche Erziehung ihrer Kinder entscheiden. Dieser Anspruch wird im amerikanischen Originaltitel „Maternal Desire. On Children, Love and the Inner Life“ viel deutlicher als in der plumpen Übersetzung. Marneffes Argumentation basiert auf eigenen Erfahrungen als Mutter dreier Kinder, jahrelanger psychologischer Beratungstätigkeit sowie auf der Lektüre von zahlreichen wissenschaftlichen Fachtexten. Letztlich stellt die Autorin die Teilnahme am lebendigen Dasein über den Besitz schnöder Waren, ebenso wie der von ihr zitierte Psychologe und Philosoph Erich Fromm in seinem Buch „Haben oder Sein“. Gerade beim Zusammenleben mit Kindern können sich ihrer Meinung nach Wünsche an individuelle, selbst bestimmte Lebensformen erfüllen: „Bei all unserem Gerede über Produktivität ist die wahre Verschwendung die: In der kurzen Phase unseres Lebens, in der unsere Kinder uns das bedingungslose Geschenk machen, uns über alles in der Welt zu lieben, ziehen wir uns zurück, als dürften wir das nicht einmal spüren, ohne durch irgendeine Geste zu beweisen, dass wir es auch verdienen.“

Daphne de Marneffes Buch erschreckt vielleicht diejenigen, die auch bei den Vorgängen des Lebens an mechanische Mach- und Planbarkeit glauben und wenig Verständnis für subtiles, inneres Erleben haben – aber ihre luzide, tiefsinnige Argumentation für ein empfindsames, beide Seiten bereicherndes Kommunizieren zwischen Mutter und Kindern überzeugt durchgehend. Auch die Fragen zur niedrigen Geburtenrate erscheinen danach in neuem Licht.

Daphne de Marneffe: Die Lust Mutter zu sein. Kabel by Piper, 460 Seiten, 24,90 Euro.


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Paul Verhaeghen: Answers

Teile des Interviews zu finden bei der Märkischen Allgemeinen Zeitung auf deutsch

The book started in Potsdam, yes. It is cast as three months in the life of a postdoc at the Uni Potsdam, coinciding with my own stay there, in the psychology department. I had an amazing time – there is nothing like the two cities of Potsdam and Berlin in the world. And 1995 was a strange time – the reality of the Wende was sinking in, it was not all good, and both cities were still very much confused and reeling and in chaos. The many layers of history all coexisted in one spot and in one time: the buildings with the pockmarks of the War still on them; Friedrich’s palaces covered in soot; abandoned Trabants at the side of the street, the Bundeswehr riding their tanks over the cobblestones in Potsdam. A whole country had suddenly disappeared. I sometimes joked with my colleagues that we were living in the Bundesdeutsche Besatzungszone, and they never contradicted me. I spent a lot of time in the Mitte and in Prenzlauer Berg in the weekends, there was something sad and at the same time energizing about those neighborhoods. And on Sundays morning I strolled through Park Sanssouci, all alone, and thought up stories that became part of this book.

And history of course – the Stasi, the Gestapo, the gaping holes in the city, the emptiness of the Scheunenviertel, the disappearance of the main Jewish cemetery there, the absence of Jews.

It was also good to go back to Berlin as a visiting scientist at the Max-Planck-Institut in Dahlem in 2001, to see how both cities had been slowly healing, had acquired yet new identities. Berlin and Potsdam are chameleon cities, always changing. One of the things I found very remarkable is that people there always seemed to live with a deep sense of nostalgia. In 1995 I heard I should have been there in 1989, or 1990. In 2001 people were nostalgic for 1995, and still getting used to the crass commercialism of the new Potsdamer Platz and Friedrichstrasse. You might wish America lived with the same taste for history; the same keen sense of responsibility for the future that Germans have.

Not just religion, but also science, and Nazism, and communism. We have tried them all, in the 20th Century, all systems, and they all knew sin; they all have failed. What shall we do next? There seems to be little else to do but to lose ourselves in our humanity. Somewhere in the book I quote (or misquote) Adorno: after Auschwitz no more poetry. But my main character, a camp survivor, thinks out loud that after Auschwitz perhaps all we need is poetry; that poetry should be the only thing still allowed – we don’t need analysis, we need art, we need to be the best humans can be. Only art can save the world, if the world is still worth saving.

‘Im Anfang war die Tat’ is a Goethe quote, of course. Faust wanders through the pages of the novel repeatedly – the scientists working in Los Alamos, Hitler in his bunker, my lonely postdoc looking for love in all the wrong places: they are all possessed by his spirit. More importantly, we are what we do. It is our actions, not our words, or motivations, or justifications-after-the-fact that count. In the novel, I wrestled, like any European, with the question of guilt, and the question of how Hitler could have happened, and Auschwitz, and Hiroshima. There is no answer – any answer is wrong. (Beware of those with answers, as recent German literary history has taught us.) But we need to ask the question; the question is important. In the book, there is a young Jewish woman who betrays other Jews so that she can save her family and friends, and herself. Would I have done the same, in the same situation? I do not know. There is a young SS-officer, who saves a child in Auschwitz. Does that erase his evil deeds? I do not know, and I want the reader to think for herself/himself about this. Our stories are made up of what we do, all of our deeds set things in motion. Karma.

A large part of Omega Minor was written in America. It is strange to write about the rise of Nazism, including the random acts of violence and torture, the creation of a fictitious enemy, and the glorification of the Leader, and see the exact same thing happen in my backyard – flags galore, an unnecessary war, Guantanamo Bay, Abuh Graibh, Bush descending from the skies on a warship, wearing a uniform that made his crotch bulge, the institution of a Heimatssicherheitsdienst, secret prisons, illegal surveillance programs. The regime here is proto-fascist, and if you speak up about that, you are suddenly un-American. The Bush government is the only government in the world still making the case that torture is an acceptable form of human treatment. Bush has now killed more Americans than Osama Bin Laden did, and no matter how you look at it, the 25000 and more Iraqi civilians killed since the war started are not a worthy monument for the 3000 dead of 9/11. I donated all the award money the book has earned in Belgium and Holland (the Bordewijk Award, the Culture Award from the Flemsih Government, a nomination for a commercial prize) to the American Civil Liberties union, who legally challenged the detentions at Guantanamo and the domestic spying program – 19500 euros well spent, and certainly better spent than supporting 3 seconds of war through paying taxes to the Bush regime.

Der alte Mann und die Sexbombe

Märkische Allgemeine Zeitung– 14.10.2006

Über das Leben jenseits der 80: eine Komödie mit Tiefgang von Marina Lewycka

BABETTE KAISERKERN

Kein junger Mensch weiß, was mit einem passiert, wenn man über 80 Jahre alt ist. Das ist vielleicht auch besser so. Aber man hört auch immer wieder, dass es für die Liebe kein Alter gibt. Von solch einem Fall erzählt Marina Lewycka in ihrem Roman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“.

Zwei Jahre nach dem Tod seiner Ehefrau verliebt sich der 84-jährige Nikolai in eine 36-Jährige, die wie „eine flauschige rosa Granate“ in sein Leben schießt. Nikolai, bei dem man nicht weiß, ob er stur, selbstbestimmt oder senil ist, setzt sich durch. Er heiratet gegen den Widerstand seiner Töchter, die zwischen Sorge, Zweifel und Entrüstung wechseln, die platinblonde Sexbombe Valentina.

Außer ihrer ukrainischen Herkunft haben die beiden nichts gemeinsam. Nikolai lebt schon seit 1946 in England, nachdem er den Nationalsozialisten nach der Besetzung der Ukraine nur knapp entkommen war. Valentina hatte nach dem Niedergang der Sowjetunion ihr Glück im goldenen Westen gesucht, wo ihre Träume schneller als gedacht platzen. Schnell werden auch die schlimmsten Befürchtungen der Töchter wahr. Dass Nikolai zunehmend auf Hilfe und Pflege angewiesen ist, beeindruckt Valentina nicht im Geringsten. Sie schimpft und ergreift drastische Maßnahmen gegen den alten Mann. Auf ihrer gelegentlich slapstickartigen Tour-de-Force in knappen Szenen und Dialogen streift Marina Lewycka viele Klischees und doch überzeugt ihr Roman über weite Strecken.

Mit drastischem Realismus und einer guten Portion Sarkasmus beschreibt sie die Kalamitäten des Alterns, die Versuche der beiden ungleichen Töchter, ihren Vater zu befreien, das rücksichtslose Streben von Valentina nach materieller Sicherheit. Die eingeschobenen Erzählungen der Eltern über ihre Tribute an Stalinismus und Nationalsozialismus verleihen dem Buch bewegende Momente.

Unermüdlich schreibt der Vater weiter an seinem Lebenswerk, der „Kurzen Geschichte des Traktors“ über die weltweiten Auswirkungen der Industrialisierung in der Landwirtschaft – und setzt damit auch ein Denkmal für Widerstandskraft und Geistesgegenwart im hohen Alter. Schließlich siegt die Komödie und geht mit einem niedlichen Happyend für alle aus.

Nach 50 Romanversuchen hat Marina Lewycka mit über 50 Jahren einen Roman geschrieben, der in England ein Bestseller wurde. Mit ihren Figuren verbindet Marina Lewycka, die in einem deutschen Lager als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter geboren wurde, nicht nur die ukrainische Herkunft und die Emigration nach England. Die Autorin hat zudem eine Reihe von Schriften über die Pflege von alten Menschen verfasst. Es ist ihr gelungen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse in einem Familienroman über ein erfülltes Leben im hohen Alter leicht, kurios und amüsant zu gestalten.

Marina Lewycka: Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch. dtv premium, 358 Seiten, 14 Euro.

Jahrhundert der Menetekel

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Märkische Allgemeine Zeitung– 09.09.2006

Der Flame Paul Verhaeghen hat einen Monumentalroman über die deutsche Geschichte geschrieben

BABETTE KAISERKERN

Was bleibt vom 20. Jahrhundert in Erinnerung? Paul Verhaeghens soeben erschienener Monumentalroman „Omega minor“ kreist um Krieg, Holocaust, Atombombe, um die epochalen Themen, die in zahllosen literarischen, filmischen und wissenschaftlichen Werken ihren Niederschlag gefunden haben. Doch jenseits von Bericht, Biografie, Statistik und Theorie gelingt Paul Verhaeghen das Wunder, ein Menetekel der Menschheit zu schreiben, in dem das Wissen um die barbarische Bosheit des letzten Jahrhunderts nicht papiertrocken erstarrt, sondern zu einem Teil der Welt und damit der menschlichen Existenz wird. Vor den Kulissen von Berlin und Potsdam entwirft Paul Verhaeghen einen aus den Fugen geratenen Kosmos, ein schrilles Panoptikum, das an die Gemälde von Max Beckmann, Felix Nussbaum und George Grosz erinnert.

Der 1965 geborene Flame, der in New York Kognitive Psychologie lehrt, kann planetarisch weit blicken, aber er besitzt auch detailgenaue Beobachtungsgabe, er ist hochgelehrt in Wissenschaften, Künsten und Religionen, verfügt aber ebenso über lustvolle Fantasie und bricht gern Tabus.

Eines davon stellte einst der Kulturkritiker Theodor W. Adorno auf, als er sagte: „Jedes Gedicht nach Auschwitz ist Barbarei“. Ein halbes Jahrhundert später stellt „Omega minor“ die legitime Gegenfrage und gibt eine neue Antwort: „Keine Poesie nach Auschwitz? Oft denke ich: Nach Auschwitz gibt es nur noch Poesie. Jede Theorie, jede Fiktion, jedes menschliche Drama hat auf dem Kachelboden der Gaskammer seine Kraft verloren.“

Sollen Wissenschaftler nicht mehr forschen, Dichter schweigen, Menschen erstarren? Nein, das Leben geht weiter, „alles fließt“. Das klingt trivial, ist aber eine schlichte Weisheit, die das Buch rasant, barock, sinnlich und vehement vermittelt. Obwohl oder gerade weil das denkbar grauenvollste Geschehen das 20. Jahrhundert prägte, stehen einzelne Menschenleben im Zentrum des Romans – gute und böse, handelnde und denkende, fühlende und – nicht zuletzt – lesende Menschen.

In einer Berliner U-Bahn wird im Jahr 1995 ein junger flämischer Post-Doc-Forscher mit Namen Paul Andermans nach einem selbstlosen Akt von Hilfsbereitschaft von Neo-Nazis zusammengeschlagen. Im Krankenhaus begegnet er Josef de Heer, einem alten Juden, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Dank seiner Talente als Zauberkünstler hatte Josef de Heer das Dasein im Untergrund und Auschwitz überlebt, auch seine spätere Existenz als berühmter Fernsehzauberer in Ost-Berlin gründete darauf. Wie er in die Machenschaften des deutschen Staats beim Mauerbau verwickelt wird, stellt einen weiteren Erzählstrang dar.

Nach seiner Entlassung besucht Paul seine Krankenhausbekanntschaft. Er will de Heers Leben als Berliner Junge, Nazi-Verfolgter und KZ-Häftling aufschreiben. Dabei stellt sich heraus, dass einiges nicht ganz stimmt, beziehungsweise aus Büchern von Holocaustüberlebenden wie Primo Levi übernommen worden ist. Diese Geschichte in der Geschichte ist Teil der labyrinthischen, bisweilen irritierenden Vielschichtigkeit von Verhaeghens Roman.

In seiner Potsdamer Universitätsunterkunft – sehr treffende Beschreibungen der Potsdamer Universität, der Häuser und Straßen kurz nach der Wende im nass-kalt-grauen Januarklima – trifft Andermans auf die italienische Forscherin Donatella, eine enge Vertraute von Professor Goldfarb. Dieser war mit seiner Mutter, einer Schauspielerin, im letzten Moment aus Berlin in die USA geflüchtet, wo er Physik studierte und nach Los Alamos ging, um am Bau der Atombombe mitzuarbeiten.

„Omega minor“ stellt viele Fragen nach den Grundlagen der menschlichen Existenz: „Wir hätten etwas lernen müssen aus Auschwitz. Die Erinnerung an Hitler wird allmählich lau und wir werden zu einer Geschichte. Sogar in der Staatsoper treten manchmal auf der Bühne Soldaten in langen, grauen Wehrmachtsmänteln auf, ab und zu tragen sie wahrhaftig Uniformmützen mit einem Totenkopf. Ist die Welt denn schlecht, oder ist sie lediglich idiotisch unmoralisch und funktionell gottlos?“

Gegen das Bewusstsein von der Vergeblichkeit aller menschlichen Mühe, gegen die gescheiterte Utopie der Aufklärung setzt Omega minor brodelnde, vulkanische Fabulierkunst. Und das ist viel, nicht nur quantitativ (der Roman hat fast 1000 Seiten!), sondern auch qualitativ. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Geschichte und den Geschichten des Judentums, aber auch Buddhismus und Hinduismus spielen eine Rolle.

Das Wort „Gott“ wird in Anspielung auf die jüdische Sitte niemals ausgeschrieben, sondern erscheint nur mit den Konsonanten: „G*tt“. Gerade so bemerkt man erstaunt, wie oft dieser Begriff vorkommt. „G*tt schuf die Welt aus 33 geheimen Pfaden der Weisheit. Aus zehn Ziffern und 22 Buchstaben. Das Weltall – alles, was ist, und alles, was geschieht – ist ein Buch, geschrieben in Zahlen und Buchstaben.“ Es beeindruckt besonders, wie der Autor das auf den ersten Blick so undurchschaubare Chaos der Zeiten, Personen und Orte überlegen gegliedert und gestaltet hat.

Beim furiosen Finale treffen die Hauptfiguren in Berlin zusammen, wo sie 50 Jahre nach Hitlers Tod eine atomare Apokalypse erleben, ein kleines Ende, ein Omega minor. Das richtige Ende kann es ja nicht sein, denn „g*ttseidank“ besteht Paul Verhaeghens opus magnum nur aus Zahlen und Buchstaben. Aber dieses Buch birgt eine ganze Welt in sich.

Paul Verhaeghen: Omega minor. Eichborn, 955 Seiten, 24,50 Euro.


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Änne Koken: Leben und Werk

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4. Koken-Day am 17.6. 2007 ab 11:00 Uhr im Historischen Museum in Hannover

„Zu der Zeit, als der Gedanke „Kunst in Handel und Industrie“ aktuell zu werden begann, stand sie in der ersten Reihe der deutschen Gebrauchsgrafiker“, heißt es im Künstler-Lexikon Thieme-Becker über die Hannoveraner Malerin und Grafikerin Änne Koken (1885-1919). Sie war eine der ersten weiblichen Gebrauchsgrafikerinnen Deutschlands. In ihrer kurzen Lebenszeit schuf die Tochter des angesehenen Kunstmalers Gustav Koken eine beachtliche Reihe von Werken in den Bereichen Gebrauchsgrafik und Freie Kunst.

In Hannover ist der Name Änne Koken vor allem mit der FA. Bahlsen verbunden, für die sie, mit dem Titel „Künstlerischer Beirat“ versehen, seit 1910 Künstlerlebkuchen, Kekspackungen, Künstlermarken u.v.m. schuf. Für die Reformzeitschrift „Neue Frauenkleidung und Frauenkultur“ entwarf sie seit 1912 regelmäßig Kleider, Hüte, u.a.m. Nachdem die moderne Berliner Zeitschrift „Das Plakat“ in der Ausgabe vom Juli 1913 einen außerordentlich positiven Artikel über die Künstlerin mit vielen Abbildungen ihrer Arbeiten publiziert hatte, wurde sie weithin bekannt und erhielt zahlreiche Aufträge. Änne Koken war Mitglied des Deutschen Werkbundes und stellte auf der berühmt gewordenen, großen Werkbundausstellung in Köln 1914 in verschiedenen Bereichen aus. Im Jahr 1914 wurde sie zudem zur Beisitzerin im Vorstand des Kestner-Museums gewählt.

Die außerordentliche Spannweite und Qualität von Änne Kokens Arbeiten, wie Glasfenster, Schmuck, Kleidung, Hüte, Textilkunst, Postkarten, Plakate, Gebrauchsgrafik aller Art, verkörpern beispielhaft die Ziele und Ideen des Deutschen Werkbundes, der in diesem Jahr sein 100jähriges Bestehen begeht. Im Zusammenwirken von Kunst, Handwerk und Industrie sollte die gewerbliche Produktion veredelt, Schönheit und Kultur in den Alltag getragen werden. Der Werkbundgründung vorausgegangen war der Einsatz für den Urheberschutz, der erstmals die Rechte der Entwerfer des neuentstehenden „industriellen Designs“ sicherte. Auch Änne Koken signierte stets ihre Entwürfe.

Weniger bekannt als die Gebrauchsgrafik sind Änne Kokens malerische Werke: Zeichnungen, Holzschnitte, Gemälde, mit denen sie auf eigene Art, aber würdig die Reihe ihrer Malerahnen fortgesetzt hat.

Der Vortrag „Änne Koken – Einführung in Leben und Werk“ von Dr. Babette Kaiserkern (Berlin), der auf Recherchen im Archiv der FA. Bahlsen, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, der Kunstbibliothek Berlin sowie dem Nachlass der Künstlerin basiert, gibt erstmals einen Einblick in das Schaffen dieser Hannoveraner Künstlerin, die zur Avantgarde ihrer Zeit gehörte.

Der vollständige Text des Vortrages ist bei Dr. Babette Kaiserkern erhältlich.

 


 

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